Cordula Tollmien

Juden in Göttingen

Boykott, Entlassungen und Verdrängung

1. Sammlung und verweigertes Gedenken

... Dennoch läßt sich sicher sagen, daß die Zahl der Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Göttingen, die jetzt ganz Südniedersachsen umfaßte (also insbesondere auch Rosdorf, Bovenden, Hann. Münden, Adelebsen und Dransfeld), in den ersten Nachkriegsjahren zunächst einmal kontinuierlich zunahm: Von 18 im März 1946 (von denen übrigens mindestens zwölf im KZ gewesen waren) stieg sie auf über 30 Mitte des Jahres 1946 und fast 40 im Mai 1947 und auch noch Anfang 1948. Erst im Juli 1949 sank sie - vor allem durch Auswanderung, aber auch durch den Tod einiger älterer Gemeindemitglieder - wieder auf unter 30. Die Zunahme während der Jahre 1946/47 ging dabei wie überall in den westlichen Besatzungszonen vor allem auf die Zuwanderung von polnischen Juden zurück, die vor den antisemitischen Ausschreitungen im Nachkriegspolen geflohen waren. Dazu kamen weitere Flüchtlinge aus anderen osteuropäischen Ländern oder auch aus der sowjetischen Besatzungszone. So stammten von den 33 Anfang Juli 1946 in Göttingen lebenden Juden 14 aus Polen oder den polnisch besetzten Gebieten, einer aus Königsberg, zwei aus der Sowjetzone und zwei aus Ungarn. Im Mai 1947 kamen von den 37 aufgeführten Personen 17 aus Polen oder den polnisch besetzten Gebieten; 13 von ihnen wanderten im Laufe der nächsten Monate oder Jahre nach Israel, New York oder Italien aus. Mit der Aufhebung jeglicher Auswanderungssperren nach Palästina im Februar 1949 nahm die Fluktuation in den jüdischen Gemeinden Deutschlands erheblich ab, und die Zahl der Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Göttingen stabilisierte sich Anfang der 50er Jahre bei etwa zwanzig.

Richard Gräfenberg ist es zu verdanken, diese nach Göttingen strömenden Menschen, die wenig mehr miteinander verband als die Erfahrung von Verfolgung und Mißhandlung, in einer Gemeinde versammelt zu haben. Kraft seiner natürlichen Autorität und der privilegierten materiellen Lage, in der er sich gegenüber seinen Glaubensgenossen befand, stellte er ihnen nicht nur in seinem Haus in der Planckstraße 12 einen Betraum und ein Büro zur Verfügung, sondern nahm auch vom ersten Tag an völlig selbstverständlich die Aufgaben eines Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde wahr. Eine formale Bestätigung dieser seiner Funktion durch die Gemeinde scheint es dabei nicht gegeben zu haben. Doch kann man den Akten entnehmen, daß Gräfenberg selbst dieses Amt als Fortsetzung seiner schon während des Krieges übernommenen Aufgaben ansah. So war er spätestens nach der letzten großen Deportation der jüdischen Göttinger im Juli 1942 Ansprechpartner für die Stadt und insbesondere für das Finanzamt Göttingen gewesen, das nach der Auflösung der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland für die Verwaltung des noch nicht veräußerten Vermögens der jüdischen Gemeinde zuständig war. Seit August 1948 wurde Gräfenberg, der vor allem mit der Beantwortung der vielen aus dem Ausland kommenden Anfragen und der Bearbeitung der sich daraus ergebenen sog. Wiedergutmachungsansprüche beschäftigt war, von Max Lilienthal unterstützt und seit Dezember 1948 zusätzlich auch noch von Frau Bürgenthal-Reitter. Beide kümmerten sich vor allem um die Verteilung der Spenden an die vielen notleidenden Gemeindemitglieder. Frau Bürgenthal betreute außerdem die Kranken (viele der ehemaligen KZ-Insassen waren schwer krank) und verwaltete die Kasse der Gemeinde, die allerdings vor allem nach der Währungsreform so gut wie leer war.

Die Armut der Gemeinde erschwerte ihre Arbeit ungemein, zumal die Rückgabe- bzw. Entschädigungsverfahren für den ehemaligen Gemeindebesitz, wie insbesondere für das Synagogengrundstück und das Gemeindehaus in der Weender Landstraße 26 noch Jahre in Anspruch nehmen sollten. So kam es, daß im ehemaligen, 1944 von der Gestapo bezogenen Jüdischen Gemeindehaus im Jahre 1947 immer noch die Polizei residierte und das Synagogengrundstück der Gemeinde erst 1952 wieder zugesprochen wurde. Besonders unverständlich ist, daß auch der Friedhof, der zwar verwüstet worden war, aber im Gegensatz zu vielen anderen jüdischen Friedhöfen immerhin noch existierte (Verkaufsverhandlungen zwischen der Stadt und dem Finanzamt in den letzten Kriegsjahren waren glücklicherweise nicht mehr zum Abschluß gekommen), der Gemeinde nicht sofort nach Kriegsende wieder zur Verfügung gestellt und auf Kosten von Stadt oder Land instandgesetzt wurde. Noch Ende 1945 konnten daher keine Beerdigungen auf dem Friedhof stattfinden und der Friedhof, dessen Mauer im August 1945 noch zusätzlich durch ein englisches Militärauto so stark beschädigt worden war, daß sie auf einer Länge von zwei Metern einstürzte, war weiteren Zerstörungen insbesondere durch spielende Kinder ausgesetzt. Erst einem Protestschreiben des im März 1946 durch Göttingen reisenden, aus London stammenden Rabbiners A. Goldfinger verdankte es die Gemeinde, daß das Finanzamt, unter dessen Verwaltung der Friedhof noch bis 1949 stand, einen Besichtigungstermin ansetzte, und das Oberfinanzpräsidium in Hannover im Juli 1946 tatsächlich Gelder für eine erste vorläufige Instandsetzung zur Verfügung stellte (nicht ohne vorher zu überlegen, ob die Kosten nicht aus dem ehemaligen Vermögen der jüdischen Gemeinden bestritten werden könnten). So konnten beispielsweise die Gräber für die 1939/40 in der Heil- & Pflegeanstalt Rosdorf zu Tode gekommenen sechs jüdischen Patienten mit einer Steineinfassung und mit einem ihre Namen tragenden Stein versehen werden; und auch die Gedenktafel für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges, die Ende 1942 den kriegsbedingten Metallsammlungen zum Opfer gefallen war, konnte wieder angebracht werden, was die Gemeinde am 8. Mai 1949 mit einer Kranzniederlegung würdigte. Auf einen Gedenkstein für die Opfer des Nationalsozialismus mußte sie allerdings noch sechs weitere Jahre warten. Nachhaltig besserten sich die Verhältnisse erst, als 1950 das Innenministerium die Kosten für die Wiederherstellung der verwahrlosten Friedhöfe übernahm. Bis dahin aber zogen sich die Verhandlungen so sehr in die Länge und stießen insbesondere bei der Stadt Göttingen auf so erhebliche Widerstände, daß sich der sonst so zurückhaltende Gräfenberg am 4. Januar 1950 gegenüber der Stadt darüber bitter beklagte:

"Die Stadt ist bisher der Jüd. Gemeinde in keiner Weise entgegenkommen. Bis heute hat sie noch nicht den leisesten Versuch gemacht irgendwie zu einer gütlichen Einigung zu kommen. Die bescheidensten Forderungen der Jüd. Gemeinde an die Stadt, wie z. Bspl. Instandsetzung des Jüd. Friedhofes und Errichtung eines Gedenksteines am Platz der zerstörten Synagoge oder besser auf dem Jüd. Friedhof wurden abschlägig behandelt. Die Jüd. Gemeinde befindet sich in großer Not und ist nicht im Stande ihren dringendsten Verpflichtungen sozialer und kultureller Art ihren verarmten Gemeindemitgliedern nachzukommen. Die Stadt hat bis jetzt der Jüd. Gemeinde kein Entgegenkommen gezeigt, und die Gemeinde kann sich des Eindruckes nicht erwehren, als ob es der Stadt schon jetzt wieder unangenehm ist, daß sich in ihrem Bereich eine Jüd. Gemeinde befindet."

Das sind harte Vorwürfe, an deren Berechtigung zu zweifeln, aber - wie ein Blick in die Akten zeigt - kein Anlaß besteht.

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