Cordula Tollmien Schreiben oder Leben

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Jorge Semprun Schreiben oder Leben

 

 

"Eines Nachts, plötzlich, nach einer langen Woche derartiger Berichte, war Schnee in meinem Schlaf gefallen.

Der Schnee von einst: ein tiefer Schnee im Buchenwald des Lagers, glitzernd im Licht der Scheinwerfer. Schneegestöber über den Fahnen des1. Mal, bei der Rückkehr, verwirrende Erinnerungen an das Grauen und den Mut. Der Schnee des Gedächtnisses, zum erstenmal seit fünzehn Jahren. In Ascona, am Ufer des Lago Maggiore, im Dezember 1945, hatte ich an einem klaren Wintertag die Augen geschlossen, geblendet vom Widerschein eines Sonnenstrahls auf der Windschutzscheibe eines Wagens auf der Straße nach Brissago. Ich hatte die Augen geschlossen, Schneeflocken, winzig, hartnäckig, hatten in rneinem Gedächtnis geglitzert. Ich hatte die Augen wieder geöffnet, eine junge Frau war da. Lorene. Der Schnee von einst, in Ascona, zum letzten Mal. ich hatte den Plan zu schreiben aufgegeben, Lorene hatte, ohne es zu wissen, mir geholfen, im Leben zu bleiben.

Seit fünfzehn Jahren war nie mehr Schnee in meinem Schlaf gefallen. Ich hatte ihn vergessen, verdrängt, zensiert. Ich beherrschte meine Träume, ich hatte den Schnee und den Rauch über dem Ettersberg vertrieben. Gewiß, manchmal war mir ein scharfer, kurzer Schmerz durch das Herz geschossen. Ein Augenblick der Qual, vermischt mit Wehmut. Sonderbaren Glücks, wer weiß? Wie diese Absurdität, das ungewöhnliche Glück dieser Erinnerung beschreiben? Manchmal hatte mich ein Schmerz, scharf wie die Spitze eines Stiletts, ins Herz getroffen. Vielleicht wenn ich ein Solo von Armstrong hörte. Wenn ich kräftig in ein Stück Schwarzbrot biß, unter Umständen. Wenn ich eine Gitane-Kippe rauchte, bis ich mir die Lippen verbrannte. jemand wunderte sich, wenn er mich meine Zigarette bis zum Ende rauchen sah. Ich hatte keine Erklärung für diese Angewohnheit: es sei eben so, sagte ich. Aber manchmal, brutal, köstlich, tauchte die Erinnerung empor: die mit den Kumpeln geteilte machorka-Kippe, die von Hand zu Hand ging, von Mund zu Mund, sanfte Droge der Brüderlichkeit.

Aber der Schnee war aus meinem Schlaf verschwunden.

Ich bin aus dem Schlaf aufgeschreckt, nach einer Woche mit Berichten über Mauthausen von Manuel A. Es war in Madrid, in der Calle Concepcion Bahamonde, 1961. Aber das Wort »aufschrecken« ist bei näherem Nachdenken unpassend. Zwar war ich mit einem Schlag aufgewacht, ich war sofort wach gewesen, hellsichtig, munter. Aber es war nicht die Angst, die Beklemmung, die mich weckte. Ich war sonderbar ruhig, heiter. Alles schien mir von nun an klar zu sein. Ich wußte, wie ich das Buch schreiben konnte, das ich vor fünfzehn Jahren hatte aufgeben müssen. Vielmehr: ichwußte, daß ich es von nun an schreiben konnte. Denn ich hatte immer gewußt, wie ich es schreiben konnte: nur der Mut hatte mir gefehlt. Der Mut, durch das Schreiben dem Tod entgegenzutreten. Aber ich brauchte diesen Mut nicht mehr.

Der Tag brach an, eine schräge Sonne streifte die Fensterscheiben des kleinen Zimmers mit den gekalkten Wänden in der Calle Concepcioni Bahamonde. Ich würde sofort beginnen, die Gelegenheit nutzend, die mich zwang, zu Hause zu bleiben, den Gefahren der Straße aus dem Weg zu gehen.

Ich würde für mich selbst schreiben, natürlich, für mich allein. Denn es kam nicht in Frage, irgend etwas zu veröffentlichen. Es war undenkbar, ein Buch zu veröffentlichen, solange ich ein illegales Führungsmitglied der KP Spaniens war.

Im Morgengrauen eines Frühlingstags in der Calle Concepion Bahamonde habe ich mich an meinen Tisch vor meine Schreibmaschine gesetzt. Es war eine tragbare Olivetti mit spanischer Tastatur: macht nichts, ich würde auf Accents graves und circonflexes verzichten.

'Da ist diese zusammengepferchte Masse von Leibern im Wagen, dieser stechende Schmerz im rechten Knie. Tage, Nächte. Ich raffe mich auf und versuche, die Tage und Nächte zu zählen ...'"

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