Cordula Tollmien Kick it, Anjali! Klappentext

  Cordula Tollmien

Kick it, Anjali!

Ab 10 Jahren

"You are Amar’s little girl".

Genau so habe ich mir das vorgestellt. Onkel Rajiv steht am Flughafen, schließt mich in die Arme, schiebt mich von sich weg, schüttelt den Kopf, zieht mich an seine Brust, schiebt mich wieder weg, guckt mich von oben bis unten an und sagt immer wieder: „Amar’s little girl“. Dabei hat er Tränen in den Augen. Amar ist mein Vater, und Rajiv erklärt mir gerade, dass Papa sein kleiner Bruder ist - was für eine Neuigkeit - und dass er soo glücklich ist, mich – Amar’s little girl – bei sich zu haben und dass Tante Hema auch glücklich ist und Rahul und Dev natürlich auch. Wer’s glaubt, wird selig. Die beiden haben bestimmt auch keine Lust auf mich. Ich würde mich jedenfalls nicht freuen, wenn eines Tages ein fremder Cousin bei uns vor der Haustür stehen und einfach mal so sechs Wochen bleiben würde.

"Are you hungry?", fragt Onkel Rajiv.

"Es geht, eigentlich nicht." Anjali schüttelt den Kopf.

Sie ist zu müde, um Hunger zu haben. Onkel Rajiv bugsiert sie und ihren Rucksack durch die die Menschenmassen in der Ankunftshalle. Dann laufen sie durch ellenlange Flughafengänge zum Parkdeck. Nach Manchester müssen sie noch zwei Stunden mit dem Auto fahren.

Während der Fahrt redet Onkel Rajiv ununterbrochen auf Anjali ein und zeigt ständig nach links und rechts. Dabei gibt es da gar nichts zu sehen. Seit sie aus London raus sind, noch nicht einmal mehr Häuser, nur langweilige Landschaft. Aber Anjali guckt brav aus dem Fenster, immer in die Richtung, in die Onkel Rajiv zeigt. Was er sagt, versteht sie sowieso nicht. Erstens ist sie müde, zweitens ist das Auto eine alte Klapperkiste und ziemlich laut. Und außerdem hat Onkel Rajiv einen ziemlich starken indischen Akzent. Daran wird sie sich erst gewöhnen müssen.

Endlich sind sie in Manchester und nach noch einmal zwanzig Minuten durch den Stadtverkehr halten sie vor Onkel Rajivs Haus. Anjali bleibt der Mund offen stehen: Das Haus ist rosa! Es steht mitten in einer Reihe von anderen Häusern, die alle ziemlich schmal sind, aber sonst ganz normal aussehen. Nur dieses eine Haus ist knallrosa gestrichen.

Das gibt es doch nicht! Hat man so etwas schon mal gesehen? Das kann doch wohl nicht wahr sein! Wenn Mirjam das sehen könnte, die würde sich tot lachen. Ein Haus ist doch kein Bonbon.

Die Tür geht auf und Tante Hema kommt heraus. Sie breitet die Arme aus und ruft laut über die ganze Straße "Anjali!"

Das jetzt auch noch! Das Rosahaus ist ja schon peinlich genug. Aber Tante Hema - das glaube ich nicht - trägt einen Sari, ebenfalls in rosa. Wunderbar passend zum Haus. Und diesen roten Punkt hat sie auch noch auf der Stirn. Mama wäre jetzt sicher begeistert. Aber ich bin es nicht. Und dann auch noch diese laute Begrüßung. Wirklich oberpeinlich.

Tante Hema läuft mit ausgebreiteten Armen auf Anjali zu und drückt sie an ihre Brust.

"Rahul, Dev, kommt her, Anjali ist da", ruft jetzt Onkel Rajiv. Es kommt aber niemand.

"Die spielen sicher wieder Fußball im Garten", erklärt Tante Hema. "Das tun sie den ganzen Tag. "

Das fehlte mir gerade noch. Ein Onkel, der völlig aus dem Häuschen ist, nur weil er mich zum ersten Mal sieht, eine rosarote indische Tante und zwei Cousins, die nichts als Fußball im Kopf haben. Das kann ja heiter werden! Wenigstens kann ich Tante Hema gut verstehen. Sie spricht extra langsam und deutlich für mich.

Noch bevor Anjali das richtig zu Ende gedacht hat, kracht plötzlich ein Ball durch die Hecke vor dem Haus und rollt ihr direkt vor die Füße. Ohne nachzudenken, nimmt Anjali den Ball mit der Innenseite vom Fuß an und schießt ihn in einem flachen Bogen zurück - Rahul, der gerade aus dem Gartentor tritt, direkt vor die Brust. Der schnappt vor Überraschung wie ein Fisch nach Luft und glotzt Anjali dann an, als sei sie das siebte Weltwunder. Das sieht so komisch aus, dass alle anfangen zu lachen, auch Dev, der hinter Rahul hergelaufen ist.

"Nicht schlecht", grinst er Anjali an. Die aber verzieht nur das Gesicht und dreht sich um, um ihren Rucksack aus dem Auto zu holen.

"Den nimmt Rahul", sagt Onkel Rajiv. "Vorausgesetzt, dass er sich von dem Schreck erholt hat."

Rahul sieht Anjali etwas verlegen an, sagt "Hello", angelt dann mit einer Hand den Ball von der Straße und nimmt in die andere den Rucksack.

Tante Hema hakt Anjali unter und geht mit ihr ins Haus. Ehe Anjali richtig begreift, was geschieht, nimmt Tante Hema ein kleines Silbertablett von einem Schränkchen im Flur hinter der Haustür, schwenkt es einmal kurz vor Anjali hin und her und berührt dann mit ihrem Finger sanft Anjalis Stirn zwischen den Augen. Dabei verreibt sie mit dem Finger ein wenig rote Farbe auf Anjalis Stirn, die sie aus einem Töpfchen auf dem Tablett genommen hat: "Sei gesegnet mein Kind", sagt sie.

Habe ich jetzt etwa auch einen dieser roten Punkte auf der Stirn? Mein Gott, das ist ja unglaublich! Wenn das schon so anfängt, wie soll das dann bloß weitergehen? Ich bin doch hier nicht in irgendeinem dieser kitschigen Bollywoodfilme. Oder etwa doch?

Tante Hema fasst Anjali an die Hand und zieht sie hinter sich her: "Komm, ich freue mich so, dass ich jetzt auch eine Tochter habe. Du schläfst oben in Devs Zimmer. Rahul und Dev schlafen so lange zusammen in Rahuls Zimmer. Ich hoffe, dass das gut geht. Die beiden sind nicht nur fußballverrückt, sie streiten sich auch dauernd deswegen. Rahul ist nämlich City Fan und Dev steht auf United."

Das wird ja immer schöner. Jetzt bin ich schon hierher verfrachtet worden, obwohl ich das gar nicht wollte, und dann müssen die beiden meinetwegen auch noch in einem Zimmer hausen und sind deswegen bestimmt sauer auf mich. Und was redet Tante Hema da von United und City? Ich hab keine Ahnung, was das sein soll.

"Manchester United und Manchester City sind die beiden großen Fußballclubs hier in Manchester. Und die Fans sind sich nicht grün", erklärt Tante Hema. "Ich musste auch erst lernen, wie wichtig die Entscheidung für einen Fußballclub im Leben sein kann. Eigentlich verstehe ich die ganze Streiterei nicht, aber so ist das eben. Ich kann nichts dagegen tun und sonst sind es gute Jungs. "

Was soll daran wohl gut sein? Dass ich nicht lache. Wahrscheinlich kann man mit den beiden kein vernünftiges Wort reden, außer über Fußball. Wie soll ich das hier bloß sechs Wochen aushalten? Ich muss nachher sofort Mirjam eine Mail schreiben. Die wird mir sowieso nicht glauben, was hier abgeht.

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